Theater einBLICK

07.11.2025

Gute Zeiten? Schlechte Zeiten?

Mischa Drüner, Kritiker*innenclub 4. November 2025
Der Videobeweis
Zum Stück

In »Der Videobeweis« spuckt eine Küchenkamera dem Ehepaar in die Suppe.

Mitten im Raum, wie ein nicht mehr ganz so strahlend weißer großer Zuckerwürfel, eine Kücheninsel. Obenauf ein Ceran-Kochfeld, sonst weiß. Man sieht was drauf ist, das Innere bleibt unsichtbar. Gehen wir mal davon aus, dass alles recht praktisch eingerichtet ist. Auf dem Würfel Wein und Wasser, passende Gläser, ein Glas ist bereits halb … ja was – eingeschenkt oder ausgetrunken? Alles für zwei. Und: auf dem Fußboden Besteck. Messer, Gabel, Löffel – auch für zwei. Es geht also um zwei. Nur: was machen die mit ihrem Besteck? Noch vor dem Auftritt führt dieses wunderbar reduzierte Bühnenbild von Johannes Frei, das den Figuren reichlich Raum zum Spielen lässt, uns ins Thema.

Ach ja, da liegt noch ein Handy, ein Smartphone. So ein Apparat, der in uns gelegentlich die Sorge weckt, dass er smarter sein könnte als sein Besitzer, mit allem, was er kann und weiß. Und heute Abend völlig zu Recht, denn als Überbringer von Botschaften, die diese praktisch eingerichtete Beziehungskiste durcheinanderwirbeln werden, hat es neben einem anderen electronic device tatsächlich eine tragende Rolle. Aber zurück auf Anfang.

Auftritt Jean-Marc und Justine oder „Juju“, sprich „Schüschü“, mit stimmhaftem SCH. Kann ein Kosename zärtlicher klingen? Beide sind seit 25 Jahren verheiratet. Miteinander. Aufeinander eingespielt. Zum Beispiel beim Streiten. Er so: Du hast gesagt. Sie so: nein hab ich nicht, ich hab gesagt … Er impliziert: Emotionales Foul! Aber wie war‘s? Was genau war? Jeder erinnert anders und wir waren nicht dabei. Noch nicht.

Auftritt Smartphone. Eine Mail mit einem Link, den die beiden nach einigen Bedenken anklicken. Wir sehen ein Video, das offensichtlich in ihrer Küche aufgenommen wurde. Die beiden werden beobachtet. Horror! Die Kamera ist schnell demontiert, allein, sie hat wohl schon eine ganze Weile dort gehangen.

Die Einzelheiten, die Jean-Marc und Juju im Folgenden durch immer neue verlinkte Videoschnipsel übereinander erfahren, decken auf, wieviel Verheimlichen und Lügen zur ihrer festen Einrichtung gehört haben. Das will natürlich besprochen werden und dabei will sich keine Seite die Butter vom Brot nehmen lassen. Strategien sind wahlweise Leugnen (es ist nicht das wonach es aussieht), moralisch Rechtfertigen (»das nennt man Liebe!«), Begründen (nur weil du …), Verhindern (das musst du nicht ansehen) bis hin zu Zerstörungsversuchen. Aber wenn die Nachricht in der Cloud steckt, hilft es nicht den Boten in den Kochtopf zu werfen, »eine Email ist doch kein Hummer!«

Das mag jetzt nach nabelbeschaulicher Paarzerfleischung klingen. Zugegeben, ist es auch. Man möchte den Figuren zurufen: »Seid doch einfach ehrlich miteinander, redet, bevor es peinlich wird!«, und gleichzeitig weiß man wie sie sich fühlen müssen. Entblößt, peinlich angefasst, verloren gegangen in einer Nebeneinander-Routine mit unsichtbarer Trennwand. Das alles wirft natürlich ernste Fragen auf. Justine: »Belügst du mich?« Jean-Marc: »Natürlich, jeden Tag. Jede Ehe ist auf Lügen aufgebaut.« Ist das so? Muss das? Wie verheiratet sind wir denn nach dieser Definition, ob mit oder ohne Trauschein? Und – BINGO! – wieder einmal findet das Theater auch in den Köpfen der Zuschauenden statt.

Ist das lustig? Oh ja! Und das liegt sowohl an den bissig geschliffenen Dialogen Sébastien Thiérys, die Claire Rabih und Frank Weigand barrierefrei übersetzt haben, als auch an der hochenergetischen Spielweise von Volker Muthmann und Judith Strößenreuther, die ihren Figuren mit erstaunlicher Amplitude starke Konturen verleihen. Die Inszenierung von Jochen Strauch hat einen sehr lebendigen Rhythmus, temporeiche Passagen wechseln mit nachsinnenden Zäsuren oder lauerndem Abwarten. Vielleicht würde der große Loriot heute solche Texte verfassen, aber das Spieltempo ist deutlich 21. Jahrhundert.

Das alles erinnert in bester Art an »Das Abschiedsdinner«, Strauchs erste Regiearbeit im dt.2. In beiden Stücken (aber auch in »Nebenan«, das zwei Wochen vorher am selben Spielort Premiere hatte und in Ibsens Lebenslügen-Klassiker »Die Wildente«), geht es um Schein und Sein, um Aufrichtigkeit gegen Hinterlist und Verstellung, um Geheimnisse und ob die Krämerei dabei unabdingbar ist, um die Frage was Offenheit ist, was Taktlosigkeit. Theater ringt ja irgendwie immer mit der Spannung zwischen Behauptung und Wahrhaftigkeit. Warum sollte es zwei Menschen miteinander anders gehen? Jede Beziehungskiste ist auch Guckkastenbühne, wenn einer zuschaut, und es braucht offensichtlich keine Schauspieler, um eine Küche zum Filmstudio zu machen. »Wir spielen immer. Wer es weiß, ist klug.« (Arthur Schnitzler)

Ein amüsantes Stück, besonders für Menschen, die vielleicht zu jung für Loriot sind, aber im besten Alter zum Heiraten. Nach einem fulminant unterhaltsamen Abend mit Denkanstößchen zum Mitnehmen gab es langen und verdienten Applaus.