Theater einBLICK

22.09.2025

Interessierter Mitbewohner

Mischa Drüner, Scharfer Blick / Kritiker*innenclub 18. September 2025
Nebenan
Zum Stück

»Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.« Dieser Satz Dürrenmatts mag einem in Daniel Kehlmanns Stück »Nebenan«, das am 14. September im dt.x Keller Premiere hatte, bereits in den Sinn kommen, wenn es noch nicht dazu gekommen ist. Aber keine Bange, es wird, es wird …

Dafür sorgt Bruno, Stammgast in der Kiez-Kneipe, in der der alte Preis für den Kräuterlikör nicht einfach von der Tafel gewischt, sondern einfach durchgestrichen wird, so dass die spirituöse Inflationsrate von 50% transparent bleibt. Daniel, ein erfolgreicher Filmschauspieler, der kurz vor einem wichtigen Casting in London telefonierend dort auftaucht, wird sich im Lauf der Handlung allerdings deutlich weniger Transparenz wünschen. Dabei hat Bruno es ihm schon früh gesagt: »Ich sehe hin und zwar genau.« Klingt wie eine Anleitung zum Achtsamsein. Ist es aber nicht.

Daniel stellt an diesem Tag fest: die Tatsache, dass er Bruno nach jahrelangem Nebeneinander-Wohnen nicht einmal erkennt, wiegt dieser mit einem erst erstaunlichen, dann immer erschreckenderen Wissen über ihn auf. Bruno kennt alle seine Film- und Serienfiguren und lobt oder verreißt einzelne Szenen kriterienorientiert und ohne ein Blatt vor dem Mund. Ganz sachlich. Nun, das alles hat er wohl im Fernsehen und Kino sehen können. Aber er weiß mehr. Auch sehr Privates. Oder die sprichwörtlichen Leichen im Keller.

Sein Wissensdurst hat einen Motor. In der Wohnung des erfolgreichen Schauspielers lebte Brunos Vater, bis ein Investor ihn mit rüden Mitteln hinausgedrängt und das Objekt nach Strich und Faden gentrifiziert, also erfolgsmenschentauglich gemacht hat. Stück für Stück erfährt Daniel so immer mehr von seinem Nachbarn, der im selben Haus gegenüber wohnt, mit Fenster zum Hof. Und immer mehr über sich. Und über sein Kindermädchen. Und über seine Frau. Und über seinen Freund und Arbeitspartner. Also über Personen, die Daniels Leben Sinn und Struktur geben.

Die Assoziation mit Stasi-Schnüfflern ist bereits im Text eingebaut. So konstatiert Bruno, das seien keine Monster, sondern ganz normale, vernünftige Leute gewesen. Der Film über das Leben in der DDR, in dem Daniel mitgespielt hat, sei pure »Wessi-Romantik«. Die Bezeichnung IM kann man hier völlig neu als Interessierter Mitbewohner definieren.

Das alles setzt einen ganzen Themenkomplex: Es geht viel um Kontraste, Unterschiede, Gegensätze. Ossi und Wessi als Wendeverlierer und -gewinner. Der beschäftigte Filmschauspieler und der Underdog, der auch schon mal künstlerische Ambitionen als Musiker hatte. Aber vor allem: Offenes und Verstecktes, Schein und gemeines Sein. Ein bisschen ist das ja auch Thema der Schauspielerei. Aber wirklich nur ein bisschen. Schließlich konstatierte Arthur Schnitzler: »Wir spielen alle, und wer es weiß, ist klug.«

Als Daniel anfangs noch seine zwei Seiten Text für das Vorsprechen lernen will, telefoniert er mehrfach mit wichtigen Personen, um an das gesamte Script zu kommen. Sein Facetime-Sunnyboy-Grinsen spiegelt sich in den Videoeinspielern, die seine Gesprächspartner in überzogener Weitwinkel-Handy-Videografie zeigen, sehr nah am Objektiv und doch so fern. (Video Wiebke Schnapper) »Who am I?«, wer bin ich, fragt er und will »some background about my character«. Nun, den bekommt er. Nur etwas anders als erwartet. Seine Telefonpartner speisen ihn ab mit der Phrase »I‘ll see what I can do.« Worauf Daniel ebenso formelhaft antwortet: »You‘re the best, BIG HUG!!« Wann waren wir das letzte Mal so peinlich? In der Pubertät, oder doch vorhin im Theaterfoyer? Will heißen: sind wir nicht alle ein bisschen, nun ja, Daniel? Moritz Schulze hat sichtlich Spaß an dieser Rolle, bedient das gesamte verrotzt-pathetische Diven-Klischee, über das sich viele Schauspielerwitze lustig machen, ohne dabei seine Figur zu denunzieren. Und so nehmen wir ihm die Verzweiflung ohne Weiteres ab, wenn er beim Karaoke-Singen während der instrumentalen Einleitung ohne einen Text nicht so recht weiß, was er jetzt eigentlich fühlen und was performen soll. Während der blaue Wartebalken quälend langsam vorankommt, ist er tatsächlich »all by myself«. Nicht minder passend die Songwahl für Bruno, der einigem nachzutrauern hat »wenn es dunkel und kalt wird in Berlin« (Musik: Michael Frei). Sein früheres Musiker-Ego mit Gitarre und Rod-Stewart-Frisur wird per Video dazu eingespielt. Im Kontrast zu Daniels Affektivität spielt Ronny Thalmeyer den Bruno gekonnt lakonisch, so dass die Macht, die er durch sein Wissen über Daniel ausüben kann, nicht als ›böses Spiel ‹, sondern (wie ein Päckchen – so viel darf verraten werden) als bloße Information abgeliefert wird. Die knallharte Unschuld. Oder performt er am Ende diese Pokerface-Attitüde auch nur, um seine Verbitterung zu decken?

Und schon sind wir als Zuschauer im Schlamassel, denn irgendwie können wir ja beide verstehen und möchten uns doch nicht ganz mit ihnen identifizieren. Daniel Kehlmanns Text lässt ja beides zu und rät doch gleichzeitig irgendwie davon ab. Der Daniel und der Bruno in uns dürfen sich heute gesehen fühlen, aber bitte draußen bleiben.

Von der Seite spielen sich immer mal Stella Maria Köb als resolute Wirtin und Nikolaus Kühn als alkoholisch und intellektuell leicht gedimmter Thekenhänger ein. Es macht Spaß die Wirtin ihr Revier bespielen zu sehen. Sie bietet schon mal Barolo (statt paroli), macht aber bis zum bitteren Ende klar, wer in ihr Revier darf und dass man Dinge und Menschen beim richtigen Namen nennen soll. Nikolaus Kühns Micha redet selten und krude, aber Bruno-loyal. Eine U-Boot-Figur, die ab und zu auftaucht, den Wachen spielt und wieder im Eigendämmer abtaucht – auch ein Lebensentwurf.

Und weil wer sich nicht verändert auf der Bühne nichts verloren hat, darf sich sogar die Eckbank aus der Ecke bewegen und auf die Pelle rücken, sowie Geheimnisse preisgeben, die Bruno dort ›besessen‹ hatte. Die Projektionsfläche hinter der Bühne schließlich ist keine Wand, sondern ein Vorhang. Was wenn der aufgeht? Werden sie dann von dort angeschaut oder dürfen sie sich dort etwas Spektakuläres erwarten?

Raphaela Mösts gelungene Inszenierung dieses intelligent gebauten Stücks im Bühnenbild und mit Kostümen von Belén Montoliú ist ein teuflisches Vergnügen. Blicke in Abgründe, mit Verve gespielt von einem kleinen aber fein besetzten Ensemble. Empfehlung.