Theater einBLICK

02.11.2024

»Wir sind das Volk!« – Eine Revolution auf der Theaterbühne

Franziska Sordon hat für den hauseigenen Kritiker*innenclub des Deutschen Theater Göttingen, der »Scharfe Blick«, »La Révolution #1 – Wir schaffen das schon« besucht.
La Révolution #1 – Wir schaffen das schon
Zum Stück

»La Révolution #1 – Wir schaffen das schon« So lautet der Titel des Stücks, das ich mir heute Abend ansehen werde. Mit wenig Vorahnung, was den Inhalt der Inszenierung betrifft, betrete ich das Deutsche Theater Göttingen. Lediglich eine grobe Idee begleitet mich an den Theaterplatz, den ich an diesem regnerischen Herbstabend aufsuche. Protest, Widerstand, Krieg, Wut, Ungerechtigkeit – Zustände, die auch beim Medienkonsum dominieren und politisch hochaktuelle Themen darstellen.
Als ich den mir bekannten, prunkvollen großen Saal des Deutschen Theaters betrete, bin ich kurzzeitig verwirrt und muss mich orientieren. Anders als gewohnt sitzt das Publikum nicht auf den samtigen, roten Sesseln mit Blick auf die Bühne, sondern auf der Bühne selbst – mit Blick auf den Zuschauer*innensaal. Begrüßt werden wir von einem edel gekleideten König Ludwig XVI., gespielt von Volker Muthmann, und seiner Königin, verkörpert von Rebecca Klingenberg. Das Monarch*innenpaar grüßt uns, ihr Volk, vom ersten Rang aus und winkt mit aufgesetztem Lächeln.
Schnell wird klar: Zuschauer*innensaal und Bühne fungieren als Parlament. Wir im Zuschauer*innenraum sowie das 16-köpfige Ensemble repräsentieren Vertreter*innen des französischen Parlaments. Die Ensemblemitglieder stellen Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten dar, was auch an ihren unterschiedlich schlichten oder opulenten Kostümen von Ausstatterin Carolin Mittler erkennbar ist. Im großen Saal spielt ein Teil des Ensembles Vertreter*innen der unteren Volksschichten. Oben im ersten Rang sitzt der Adel – räumlich, physisch überlegen über unseren Köpfen, dem dritten Stand im Saal. Die Inszenierung von Schirin Khodadadian bringt uns in den kommenden drei Stunden eine modern interpretierte französische Revolution näher, ausgetragen im spartanisch eingerichteten Parlamentssaal. Es entspinnt sich ein politisches, schnelles Streitgespräch zwischen den Figuren der verschiedenen Schichten.
Wir als Publikum werden in die mitreißende Inszenierung unmittelbar einbezogen und erleben die Schauspieler*innen hautnah. Sie sprechen uns teilweise direkt an, fragen nach unseren Namen, setzen sich auf reservierte Plätze neben uns, atmen uns an. Der Adel rempelt sogar im Publikum gelegentlich, bleibt in seiner überlegenen Rolle. So fühle ich mich als Teil des Geschehens, bin mittendrin.
Als das hitzige Gespräch immer heftiger wird und die Verhandlungen kurz davor stehen, abgebrochen zu werden, richtet sich ein Appell an uns alle: »Räumen Sie bitte den Saal.« Die Zuschauer*innen gehen in die Pause, holen sich Getränke, trinken Wein, Bier, Sekt. Auch ich bestelle mir ein Bier und setze mich im oberen Bereich des Theater-Bistros hin. Da ich an diesem Abend ohne Begleitung bin, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Frau LeFranc, eine Abgeordnete mit linker Gesinnung, gespielt von Tara Helena Weiß, spaziert in ihrem Kostüm an mir vorbei und mischt sich in der Pause unter das Volk. Ebenfalls Rebecca Klingenberg, niemand anderes als die Königin höchstpersönlich, schreitet in ihrer prunkvollen Robe an mir vorbei. Ihr Blick streift mich, sie nickt mir leicht zu. Ich ahne: die
Schauspieler*innen des Ensembles laufen zwischen den Besucher*innen herum und suggerieren, dass wir alle Teil des Abends und Teil der Inszenierung sind. Alle ein Teil des Volkes. Die Idee gefällt mir gut! So dürfen auch wir die Kostüme – schildernd und prächtig vom Adel – aus nächster Nähe bewundern.
In der zweiten Hälfte nach der Pause nehmen wir auf den roten Sesseln im Saal Platz. Die Inszenierung nimmt erneut an Tempo auf, das politische Streitgespräch wird heftiger und rauer. Es geht nun nicht mehr nur um Unzufriedenheit, sondern um Unruhen in Paris, um Gewalt, Enthauptungen, Mord und Terror.
Der schnelle, laute und oft boshafte Schlagabtausch ist manchmal so intensiv, dass man selbst aufspringen und mitdiskutieren will. In anderen Momenten zieht sich das Geschehen so in die Länge, dass man selbst leicht genervt und gelangweilt ist – ähnlich wie es wohl in einem Parlamentssaal ablaufen könnte. Die Eindringlichkeit, mit der die Inszenierung Demokratie als einen Prozess erfahrbar macht, der oft zäh und anstrengend ist, ist dabei von großer Relevanz. Sie verdeutlicht, dass Demokratie nur durch diesen ständigen Austausch und das Ringen um Lösungen lebendig und möglich bleibt.
Am Ende des Abends versucht der zuversichtliche König, sein zerstrittenes Volk zu einen. Mit dem Appell »Wir schaffen das schon« bittet er um Geduld, um ein Aussitzen der Situation. Dieser hochaktuelle Schluss, getragen von der stimmgewaltigen und energiegeladenen Leistung des gesamten Ensembles, unterstreicht die Relevanz und die Spannung der Inszenierung.