»Es gab einen, der da war. Der was gemacht hat. Der was gemacht hat?« Marinka kehrt nach Jahren in ihren Heimatdorf zurück. Dort wird ein Fest gefeiert – o ein Stadtfest, ein Dorffest, eine Kirmes, ein Schützenfest. Zwischen Lampions und Kettenkarussell, zwischen Tanzen und Essen beginnt Marinka sich zu erinnern. Während alle anderen feiern, kommen in ihr die lang verdrängten Bilder auf, die Bilder einer Nacht wie dieser. »Was passiert ist, ist ein Klischee.« Was passiert ist, ist etwas, für das Marinka keine Worte findet. Ihr Umfeld ist ihr keine Hilfe, weder ihr Bruder noch die Polizistin Lene glauben dem, was sie beschreibt, wirklich. Der Bruder spricht von einem Traum, versucht gar die Aufklärung des Geschehenen zu verhindern. Marinka beschließt, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. An ihrer Seite jagt ein Chor Hunde. Oder ist es ein Chor junger Männer, der da mit ihr heult?
Ivana Sokolas Stück über strukturelle Gewalt und Mechanismen von Macht stellt die Frage nach dem Verhältnis von Rache, Schuld und Gnade. Wie könnte eine neue Verteilung von Macht aussehen? Wie geht die Gesellschaft mit den Opfern von sexuellen Übergriffen um und wie setzt man sich gegen diese zur Wehr? Marinka begibt sich auf die Pirsch, wird zur Jägerin und emanzipiert sich von der Zuschreibung des Opfers. Doch ist dieser Weg legitim?
Zur Autorin:
Ivana Sokola, geboren 1995 in Hamburg, studiert Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. 2021 wurde sie für ihr Stück »Kill Baby« mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen ausgezeichnet. Für ihr Nachfolgestück »Pirsch« wurde sie mit dem Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2022 ausgezeichnet. Mit Jona Spreter bildet sie das Autor*innenduo Sokola//Spreter. Ihr gemeinsames Stück »Tierversuch« wurde mit dem Publikumspreis des Hans-Gratzer-Stipendiums am Schauspielhaus Wien ausgezeichnet und war für den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik nominiert. In der Spielzeit 2022/23 übernimmt das Duo die neue Hausautor*innenschaft am Theater Münster.
Pressestimmen
Anspruchsvoll und eindrucksvoll »Ein schwieriges, anspruchsvolles Stück, das unter der Regie von Christina Gegenbauer aber trotzdem mit eindrucksvoll komponierten Bildern in den Bann zieht ... Der Dramatext von Ivana Sokola ist poetisch und narrativ ... Die Inszenierung unterstreicht die Wirkung des Textes mit gelungenen Einfällen: Das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Frank Albert) besteht aus grünen, kreuz und quer gespannten Gummibändern, die einen Wald suggerieren, durch den die Figuren streifen und in dem sie sich auf ihrer Rachemission immer wieder auch verheddern. Licht- und Ton erzeugen eine bedrohliche Atmosphäre. Die Darsteller spielen manieriert und mit puppenhaften Bewegungen, die andeuten, wie sehr sie in den starren Regeln der Dorfgesellschaft gefangen sind. Die Kostüme bestehen aus einer Kombination von traditioneller Jagdkleidung mit modernen Elementen, was die mystische Zeitlosigkeit der Erzählung verstärkt … Wer bereit ist, sich auf ein Stück einzulassen, das bedrückende Fragen aufwirft und die Zuschauer mit einem anspruchsvollen Text und gespenstischen Bildern herausfordert, der wird von der DT-Inszenierung nicht enttäuscht sein.«
Hanna Sellheim, goettinger-tageblatt.de 30.1.2023
Hinter dem Text versteckt »Erzählt wird all das in einer eigenartig erdigen, fast altertümlichen Sprache, in der sich die Darstellerinnen und Darsteller des Textes immer wieder verfangen wie in den Gummibändern des Bühnenbildes. Zur der trügerischen Dorfromantik trägt das ebenso bei wie die trachtenartig anmutenden Kostüme ... Man kann hier über den alten Spruch vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist nachdenken, über die Frage, wo und wie Moral, staatliche Institutionen nötig sind und versagen können ... Die Inszenierung in Göttingen setzt dem die Klarheit des Bühnenbildes entgegen, dennoch bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Thema, das Erkundens Wert ist in einem Text verbirgt, der sich hinter zu viel Sprache und zu viel Bildern versteckt, wo er das eigentlich nicht müsste. Das federt die Wucht, die er entfalten könnte, stark ab und sorgt für eine weiche Landung, die besser eine harte gewesen wäre.«
Jan Fischer, die-deutsche-buehne.de 30.1.2023
Fährte ins Trauma »Mit ganzem Körpereinsatz spielt das Ensemble, versteckt sich hinter dem grünen Gitter eines Waldes (oder sind es Erinnerungen, in denen man sich verheddert?), um nur als fragmentiert sichtbar zu sein, schreit und schwitzt. Judith Strößenreuter fängt als Polizistin Lene den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit, der die Figur zu zerreißen droht, beeindruckend ein, und die drei Hunde (Florian Donath, Moritz Schulze, Christoph Türkay) schaffen es, das Spannungsverhältnis zwischen Spiel auf der einen Seite und tödlichem Ernst auf der anderen, die eine Jagd zwangsläufig sein muss, einzufangen. Nikolaj Efendis Musik, irgendwo zwischen sehr düsterem Ambient und Drone à la Yellow Swans, verdeutlicht, dass dieses Fest anders ablaufen wird als die anderen ... Ivana Sokola hat mit ›Pirsch‹ ein starkes Stück vorgelegt, äußerst gekonnt inszeniert von Christina Gegenbauer. Wahrscheinlich wird es viele Besucher noch einige Zeit begleiten. Das Gedächtnis kennt keine Verjährungsfrist.«
Simon Gottwald, nachtkritik.de 30.1.2023
Gnadenlose Unruhe »Ivana Sokola, die für ›Pirsch‹ mit dem Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2022 ausgezeichnet wurde, schlägt mit ihrem Text eine tiefe Kerbe in aktuelle Debatten darüber, wie unsere Gesellschaft mit Opfern sexueller Gewalt umgeht ... Der Stücktext schafft es auf geniale Weise, das Thema weg von klischeehaften Narrativen hin zu einer tiefen und entlarvenden Auseinandersetzung zu bewegen ... Das zunächst bedrängende und retraumatisierende, schließlich unglaublich kraftvolle Setting setzt Regisseurin Christina Gegenbauer auf so einfallsreiche, wenn auch ›simple‹ Weise um. Das Bühnenbild von Frank Albert besteht aus mehreren Bahnen von Stoffstreifen, die mittels Magneten während des Abends mehrmals von den Schauspieler*innen neu platziert werden ... Die Musik von Nikolaj Efendi – ein Mix aus unterschwelligem Ambient und dröhnend-voranschreitenden Bässen – komplettiert dieses Bild zu einer den ganzen Raum erfüllenden Atmosphäre ... In diesem Rahmen tritt Mirjam Rast zunächst als Marionette auf ... Doch je mehr sie von ihrer Geschichte erzählt, je mehr ihr nicht glauben, je wütender sie wird, desto weniger mechanisch wirken ihre Bewegungen. Eine technisch so präzise wie klug gewählte schauspielerische Umsetzung von Marinkas Emanzipationsprozess ... Gestützt wird sie von den Jagdhunden … Ihr präzises chorisches Sprechen, ihr Geheule, die bis ins kleinste Zucken durchchoreografierten Blicke, verschaffen der Szenerie anstrengende, aber gerade dadurch tiefgehende Spannungs- und Schreckmomente … Der Abend … wirkt nach.«
Lina Wölfel, tdz.de 9.2.2023
Negation der Negation des Rechts »Marinka (Mirjam Rast) wirkt zu Beginn wie ein verschrecktes Reh … alles strahlt hinein, aber nichts kommt nach außen. Später, in der bissig-aggressiven Körperhaltung, mit den hochgezogenen Schultern, den klauengeformten Händen und dem in die Tiefe bohrenden Blick, ist dieses Merkmal, die Unschuld, kaum wiederzuerkennen. Indessen etwa Jan (Lukas Beeler), verwandt, nahestehend und eine Ansprechperson, sich später selbst seiner eigenen Vergangenheitswelt stellen muss. Die rätselhafte Verquickung von Täterschaft und Opferschaft, nur in Rückkehr, setzt emotional und affektvoll das Kontrastbild zur Wandlung Marinkas … Gelungen ist insbesondere die Körpersprache der Schauspieler:innen, die ihr Stilistik-Repertoire mitfühlbar zum Einsatz wenden.«
Robin Alexander Schmidt, litlog.de 7.3.2023
Tour de Force: PIRSCH »Das Bühnenbild von Frank Albert passt ideal zum herausragend durchkomponierten Text Ivana Sokolas, der sowohl mit Zusammenhängen als auch mit Assoziationen arbeitet, Bildräume öffnet und zugleich narrativ zündet, gewalthaltig und zielstrebig das Publikum in seinen Bann zieht … Florian Donath, Moritz Schulze und Christoph Türkay gelingt es nicht nur, als mörderisches Hunderudel überzeugend aufzutreten, sondern geben den Hunden auch noch einen durchaus unterschiedlichen Charakter mit. Während Türkays Rolle in ihrer Mimik beispielsweise wölfische Grimmigkeit beisteuert, scheint Florian Donaths Figur eher gierige Verschlagenheit zu verkörpern. Alle drei beweisen beeindruckende Exaktheit mit großem Gespür für Timing. Lukas Beeler zeichnet Jan als vielgesichtigen Menschen von gewaltvoll bis gebrochen. Judith Strößenreuter spielt auf der Klaviatur der Haltungen ebenfalls sehr eindrucksvoll mal die Zweifelnd-Distanzierte, mal die Emotional-Entschlossene. Ein Ereignis ist als Marinka Mirjam Rast, die als Gast am Deutschen Theater engagiert ist. Sie sorgt dafür, dass das Leid, die Wut und die Verzweiflung ihrer Figur in jedem Moment spürbar wird. Während der Vorstellung ist das Publikum sichtlich angespannt. Einige verlassen das Stück vorzeitig. Es ist keine leichte Kost, die hier geboten wird. Aber ›Pirsch‹ ist Theater am Puls der Zeit, effektvoll, wirkmächtig, großartig inszeniert und gespielt. Ein herausragend intensiver Abend, wie man ihn nur selten erlebt. 10 von 10 Sternen!«
Marcel Lorenz, unddasleben.wordpress.com 25.3.2023