Rheintöchter, die es Leid sind, das Rheingold zu bewachen. Ein goldgieriger Zwerg, der keine Lust mehr hat, geraubtes Kapital zu vermehren. Eine Göttertochter, die am Vater verzweifelt und am liebsten nur noch schlafen würde. Das Personal in Thomas Köcks neuem Stück hat keine Lust mehr, mitzuspielen im Mythos vom »Ring des Nibelungen«, den Richard Wagner einst in ein monumentales Musiktheater verwandelt hat. Aber noch besteht Wotan, der alte weiße Gott, auf die Einhaltung der Verträge und macht sich Siegfried, der deutsche Held, schwertschwingend auf, den fluchbeladenen Ring zurückzuholen. Mythen sind häufig Erzählungen, die weit in die Vorzeit zurückreichen. In eine Zeit, in der sich Götter und Menschen noch direkt begegnet sind und diese Begegnungen durchaus nicht konfliktfrei verliefen, weil die Menschen schon einmal die göttliche Macht auf die Probe stellten. Mythen erklären die Entstehung der Welt, die Geschichte eines Volksstammes oder liefern die Begründung für die Existenz eines Reiches. Sie werden über Generationen weitererzählt, verändern sich, werden an politische Situationen angepasst, miteinander verwoben, oder in einzelne Erzählstränge aufgespalten. Solange sie existent sind, tragen sie eine Art kulturelle DNA in sich, die diejenigen beeinflusst, die ihr Bestehen und ihre Bedeutung für die Deutung der Welt anerkennen.
Als 1872 aus der deutschen Kleinstaaterei das Deutsche Reich wurde, war dies letztlich ein Verwaltungsakt von Adel und Bürgertum vorangetrieben aus der Erkenntnis, dass in der Moderne mit ihrem technischen Fortschritt, der Industrialisierung und vor allem auch mit ihrem neuen militärischen Potenzial, nur große Staaten überleben würden. Was dem Jungen Nationalstaat noch fehlte, war die Legitimation in der Historie. Da kam Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« gerade Recht, in dem der Komponist Teile germanischer Sagen mit dem mittelalterlichen »Nibelungenlied« zu einer komplexen Erzählung verband, in der mit der Figur des Siegfried ein prägnanter germanischer Held geschaffen wurde. Der Zyklus von 4 Opern und einer Gesamtspieldauer von 16 Stunden sprengte jeden Rahmen und festigte Wagners Ruf als Erneuerer der Oper. Wagner gründete für die erste Aufführung des kompletten Zyklus in Bayreuth die »Richard Wagner Festspiele«, ließ in der fränkischen Provinzstadt in seiner Zeit innovativste Theater erbauen und trug damit ein gutes Stück zum Entstehen des Mythos der eigenen Person bei. Seit 1951 finden die »Richard Wagner Festspiele« jährlich statt, als fester Bestandteil der deutschen Hochkultur prägen sie das Bild Deutschlands, deutsche Leitkultur sozusagen. In Wagners »Ring« ist die Notwendigkeit des Sturzes der alten Götter für das Entstehen einer neuen, besseren Welt das zentrale Thema. Kann aber eine neue, bessere Welt entstehen, wenn die alten Mythen immer lebendig bleiben, fragt der der Autor Thomas Köck heute. In seiner Überschreibung des Stoffes agieren die Figuren des Mythos nur widerwillig, weil sie offenbar längst klüger sind als der Mythos selbst. Die Rheintöchter wollen nicht mehr als erotische Accessoires einen legendären Schatz am Grund des Flusses bewachen. Sie sind mit der Zeit gegangen und ihr Bewusstsein als moderne Frauen, lässt sie durchschauen, welchen Männerfantasien sie ihre Rollen verdanken. Der Nibelung Alberich, der ihnen den Schatz entwendet hat, weiß sehr wohl, dass Wagner mit seiner Figur üble antisemitische Klischees verbreitet hat. Alberich hat die gnadenlosen Mechanismen des Kapitalismus durchschaut und jede Lust verloren, mit gestohlenem Kapital, Rendite zu erzielen. Brünnhilde ist das leer gewordene Leben in einer durchökonomisierten Zeit leid geworden und flieht in den Schlaf. Nur Wotan ignoriert seine erodierende Macht und dringt zwecks Systemerhalt auf die Einhaltung von Verträgen, deren Relevanz längst in Zweifel steht. Und Siegfried, der deutsche Held, tut, was ein Held tun muss: Unfähig zu erkennen, dass er eigentlich ein Opfer ist, exekutiert er den Mythos und steckt die Welt in Brand. Köcks Stück ist ein immer vorandrängender Sprachrausch, der zwischen Wagnerschem Pathos und zeitgenössischer Lakonie changierend, eine brillante Analyse der deutschen Wirklichkeit liefert.
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Pressestimmen
Germanenheld im Rollstuhl »Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt eine grandiose ›Ring des Nibelungen‹ -Bearbeitung … Es entwickelt sich ein intelligenter, witziger rasanter, toll gespielter Abend mit einem 14-köpfigen All-Star-Ensemble in Bestform … Zu den eindringlichsten Szenen gehört Paul Trempnaus Monolog als Siegfried … Wie der ur-germanische Held von seiner Kindheit auf dem Campingplatz in Lügde spricht, von Verwahrlosung, Darknet, Missbrauch, Behördenversagen, das ist pures Grauen … Ganz großer Theaterabend. Klug und witzig.«
Bettina Fraschke, HNA 1.2.2022
»Der Ring des Nibelungen« bringt die urdeutschen Mythen zum Einsturz »Erich Sidler hat Thomas Köcks Mythendämmerung ›Wagner – Der Ring des Nibelungen‹ auf die Bühne gebracht, eine grandiose Produktion ... Das Publikum feierte die denkwürdige Premiere … Tatsächlich agiert das Ensemble enorm geschlossen. Alle Akteure haben Auftritte, die ihnen Aufmerksamkeit bescheren. Regisseur Sidler lässt sie als Team auftreten und hat sich geradezu liebevoll jeder einzelnen Figur gewidmet. Und er hat diesem nicht leicht zu überschauenden Plot mit viel Präzision ein Mindestmaß an Verständlichkeit gegeben. Jörg Kiefel hat für dieses Götterringen eine Bühne entworfen, die diesen Namen tatsächlich verdient. Eine Drehbühne präsentiert einige Räume in stetigem Wechsel. In einem dieser Räume ist die hintere Wand nahezu komplett von einer spiegelnden Fläche bedeckt. Ein kluger Kunstgriff, der die Zuschauer, die sich darin spiegeln, in das Geschehen einbezieht. Sie werden Teil dieses Ringens um Macht und Mythen, um Gold und Geld ... Ein grandioser, funkelnder Theaterabend ist Sidler mit seinem Team und einem ganz starken Ensemble gelungen.«
Peter Krüger-Lenz, göttinger-tageblatt.de 30.1.2022
Ein zerstörerischer Mythos »Das Publikum kann sich von diesem sprachgewaltigen Abend nicht nur gedanklich berauschen lassen, sondern auch von einem Schauspiel-Team, das seine Figuren mit so viel Mut zur Leidenschaft auch in ihren emotionalen Kräften bestärkt, sich all ihren Facetten zu stellen ... Erich Sidler ringt mit seinem Ensemble um jeden Gedankensplitter in der Quo vadis Frage, die Thomas Köcks Textflut durchdringt. Trotzdem dürfen diese Gedankensplitter, Assoziationen und Anspielungen auf Wagners Pandämonium sich immer wieder verhaken und auch in ihrer Vieldeutigkeit verwirren und verunsichern. Seine Inszenierung vertraut auf die Dissonanzen in dieser vielstimmigen Partitur, auf dass sie das Publikum ebenfalls herausfordern, sich dieser Quo vadis Frage aus möglichst vielen Perspektiven zu stellen, die Worte so unmittelbar auf sich wirken zu lassen wie die Gedankenbilder. Die Wirkung hält an, nicht nur über dreieinhalb bewegende Stunden, sondern über diesen großartigen Theaterabend hinaus, der mit enthusiastischem Beifall gefeiert wurde.«
Tina Fibiger, Kulturbüro Göttingen 3.2.2022
Ein leiser Angriff auf den Mythos »Dabei gelingt es Erich Sidler, den Blick von der Oberfläche in den Hintergrund oder gelegentlich in die Tiefe der Seele zu lenken … Doch die stärkste Leistung liefert Gaby Dey in der Rolle der Sieglinde ab. Ihre abgeklärte Darstellung und Sprechweise sind der ruhende Kontrast zu dem überdrehten Treiben der Götter, Halbgötter und anderer Helden. Sie erdet das Stück und bekommt dafür zu Recht Szenenapplaus … Sidler liefert einen leisen, aber deutlichen Angriff auf den Mythos Wagner.«
Thomas Kügler, Harzkurier 4.2.2022
Eine Zelle mit offener Tür »Dem Deutschen Theater Göttingen gelingt mit der Inszenierung von Thomas Köcks ›wagner – der ring des nibelungen‹ eine funkenstiebende Zertrümmerung des Mythos: sprachlich überwältigend, szenisch überzeugend, mit Mut zur Aporie, siegfriedhaft-anarchisch die Vergessenheits-, Liebes- und Todestränke des ›alten Zauberers‹ umstoßend … Volker Muthmann als Alberich wechselt irrwitzig-rasant die Stimmlagen und spielt virtuos mit den Rollen und Verkleidungen. Es glänzen Gabriel von Berlepsch als Wotan mit seinem selbstgefälligen Selbstmitleid, seiner heimlichen Schwäche und Angst, Rebecca Klingenberg als Brünnhilde mit der energischen Wut der Ideologiekritikerin und Angelika Fornell als Erda mit ihrer lächelnden Überlegenheit.«
Leonard Herbst, litlog.de 8.2.2022