Theater einBLICK

18.11.2025

Von der Zeit, die uns gehört

Franziska Sordon, Scharfer Blick / Kritiker*innen club 16.11.2025

Schon bevor das Licht im Saal endgültig erlischt, entfaltet sich auf der Bühne des Deutschen Theaters Göttingen jene besondere Erwartungsspannung, die nur Premieren besitzen. Und dann öffnet sich die Welt von Momo, ihren Freund*innen wie Beppo dem Straßenkehrer und der Schildkröte Kassiopeia.

Was Bühnenbildnerin Caroline Stauch hier erschaffen hat, ist nicht weniger als ein poetisches Gesamtkunstwerk: Immer wieder dreht sich die Bühne, eröffnet neue Perspektiven, Räume, Übergänge – als würde die Zeit selbst für einen Moment sichtbar werden. Die erhabene, in edlen Lilatönen schimmernde Welt von Meister Hora beispielsweise wirkt wie ein schwebender Tempel der Zeit, geheimnisvoll und warm zugleich. Die Farbkomposition – das tiefe, samtige Lila im Komplementärkontrast zu den gelben, goldenen, weich glühenden Elementen von Horas magischem Reich – entfaltet eine Strahlkraft, die Kinder wie Erwachsene sofort gleichermaßen begeistert. Im schroffen Gegensatz dazu steht die Welt der grauen Herren: düster, kalt, industriell, kantig. Stahlfarben dominieren, harte Schatten zerschneiden den dunkelgrauen Bühnenraum. Für das sehr junge Publikum – meist im Kindergarten- oder Grundschulalter – müssen die grauen Herren mit ihren spitzen Schulterpolstern, den präzise geschnittenen Anzügen, den permanent glimmenden Zigarren voller künstlichen Rauchs und ihren eisigen Blicken und seltsamen, unnatürlich langsamen Bewegungen ein wenig furchteinflößend gewirkt haben.

Julian Mantaj brilliert in seiner Rolle als grauer Herr. Mit nervösen Zuckungen, einem fahrigen Gestus, der zwischen Kontrolle und Kontrollverlust taumelt, verleiht er seiner Figur eine unerwartete Verletzlichkeit. Als er sich Momo öffnet und – scheinbar wider Willen – die Mission der grauen Herren preisgibt, entsteht ein berührender Moment dieses Nachmittags. Mantajs Spiel zeigt eindrucksvoll, dass selbst in den kühlsten Systemen Risse erscheinen können.

Wie klug die Inszenierung die Titelfigur Momo setzt, fällt sofort ins Auge. Statt der ikonischen Darstellung mit wildem schwarzem Lockenkopf und langem Mantel begegnet uns eine freche, nahbare, fast schelmische Momo: blonde Wuschel-Locken, zweifarbige Socken, ein Stil, der an die Unangepasstheit von Pippi Langstrumpf erinnert, ohne zum Abklatsch zu werden. Lou von Gündell spielt dieses besondere Kind mit ansteckender Offenheit, wacher Präsenz und einer Unschuld, die niemals naiv wirkt. Gerade weil Momo optisch nicht herausstechen soll, entsteht jene große Identifikationsfläche: Jedes Kind im Publikum kann in ihr ein Stück von sich selbst erkennen.

Ein heimlicher Star des Abends jedoch ist Marie Seiser, die wie die meisten Schauspieler*innen dieses Ensembles gleich mehrere Rollen im Stück verkörpert – Momos Freundin Maria, die eitlere Puppe Bibigirl und die weise Schildkröte Kassiopeia. Mit erstaunlicher Wandelbarkeit taucht sie in jede Figur mit unverwechselbarer Energie ein. Besonders Bibigirl und Kassiopeia bleiben im Gedächtnis: Wie Seiser im Schildkrötenkostüm – ein weiteres Meisterstück von Caroline Stauch – langsam, bedacht und dennoch voller Humor über die Bühne gleitet, ist schlicht herausragend. Die leuchtenden Elemente am Panzer, die tatsächlich wie im Buch zu schimmern beginnen, ließen viele Kinder und Erwachsene im Publikum vor Begeisterung aufglucksen.

Überhaupt gelingt es dieser Inszenierung von Inda Buschmann, jene Magie wieder aufleben zu lassen, die Michael Endes Geschichte seit Jahrzehnten auszeichnet. Die Bühne verwandelt sich in einen Ort voller Staunen: leuchtende Zeitblumen, Glitzerstaub, der von der Decke rieselt wie gestohlene, eingefangene und wieder frei gewordene Sekunden, Nebelmaschinen als Aktenordner der grauen Herren getarnt, die ebendiese im Nebel verschwinden lassen – Momente, in denen die Zeit kurz stillzustehen scheint. Die Ensemblearbeit ist fein abgestimmt, lebendig, warm. Man spürt, wie viel Herz, Mühe und Spielfreude in diesem Familienstück stecken.

Die Kinder im Publikum reagierten mit Jubel, Gelächter, gespannter Stille – und schließlich mit einem tosenden Applaus, der selbst die grauen Herren kurz hätte erzittern lassen. Als am Ende ein Kind laut »Zugabe!« rief, ging ein Lächeln durchs gesamte Theater.

Was will man mehr an einem grauen Göttinger Sonntag im November, der draußen im Nieselregen versinkt? Drinnen darf man sich vom Ensemble in eine wundervolle, zeitlos relevante Geschichte entführen lassen – eine Geschichte über Freundschaft, Mut und die Zeit, die uns gehört.

Wer sich verzaubern lassen möchte, wer wieder staunen will wie ein Kind, der sollte sich »Momo« am Deutschen Theater Göttingen nicht entgehen lassen. Ein Nachmittag, der einen mit Wärme füllt. Ein Abend, der nachhallt.