Theater einBLICK

04.11.2025

Wie weit würdest Du gehen?

Claus Lampe, Scharfer Blick / Kritiker*innenclub 29.10.2025
Jeder stirbt für sich allein
Zum Stück

Berlin 1940. Der auf einer wahren Geschichte beruhende Roman »Jeder stirbt für sich allein« von Hans Fallada wird in der Regie von Mathias Spaan auf die sparsam möblierte Bühne gebracht. Göttingen 2025.

Durch die Fenster eines gläsernen Kubus in der Bühnenmitte wird das Publikum Zeuge, wie die Welt des Ehepaars Otto und Anna Quangel (unauffällig, aber zunehmend entschlossen verkörpert durch Agnes Mann und Marco Matthes) durch die Feldpostnachricht vom Tod ihres Sohnes zusammenbricht. Ihre Verzweiflung wandelt sich zur Entschlossenheit, mit der sie daraufhin beginnen, heimlich Postkarten mit Widerstandsbotschaften an verschiedenen Orten der Stadt abzulegen. Effektvoll rieseln diese in der Inszenierung von der Bühnendecke, gleichsam aus dem Nichts.Geräuschlos und stetig tauchen Sie (nun) überall in der Stadt auf. Der Parteiapparat tobt und fordert drastische Maßnahmen und die Ergreifung der Täter.

Die beherrschende Macht auf der Bühne ist der durch Leonard Wilhelm verkörperte unberechenbare und gewalttätige Obergruppenführer Prall. Seine fast diabolische Präsenz setzt letzte Regeln außer Kraft, in einer Alltagswelt, die dem Abgrund entgegen taumelt und Täter und Opfer am Ende gleichsam verschlingen will.

 

Bei der von Kommissar Escherich geleiteten Jagd wird zuerst der instabile, stets in Geldnöten befindliche Enno Kluge denunziert (überzeugend verkörpert vom dauerrauchenden Volker Muthmann). Escherich erpresst seine Falschaussage, was tragische Folgen hat. Der unschuldige Enno Kluge stirbt. Spätestens hier zerbricht die Fassade des dienstbeflissenen und zuerst besonnenen Kommissars, er wird vom Mitläufer zum Täter und im Verlauf dann selber zum Opfer der Denunziations- und Zerstörungsmaschinerie. Dieser entscheidende Moment wird kraftvoll in Szene gesetzt, indem aus einer Dienstbesprechung heraus der Kommissar in einem Sekundenbruchteil selbst blutbeschmiert und allein in der Bühnenmitte verbleibt. Diese Zerrissenheit und zunehmende Verzweiflung des Kommissars werden von Daniel Mühe beklemmend und eindrücklich gespielt.

 

Die Vereinnahmung der Menschen durch die Kriegs- und Propagandamaschinerie und die Auswirkungen, die die Postkarten haben, werden durch Verstrickung einzelner Charaktere der Hausgemeinschaft exemplarisch mal schmerzhaft, mal eher beiläufig durch das Ensemble in Szene gesetzt. Der starken Eva Kluge – nun als Witwe – gelingt gegen Widerstände ein Parteiaustritt, sie verliert Ihre Stelle und fängt auf dem Lande ein neues Leben an. Die Eheleute Quangel setzen das Verteilen der Karten systematisch fort, werden im Stückverlauf jedoch nach einer Unachtsamkeit gefasst und erwarten danach ihr Strafverfahren und ihre Hinrichtung. Zwei Menschen sollen sterben, weil sie Postkarten verteilt haben. Kommissar Escherich wird aufgefordert sich an Misshandlungen der Verhafteten zu beteiligen und erschießt sich in Folge aus Scham und Verachtung.

 

Zum Finale hat Andrea Strube allein die Bühne und zieht alle Blicke auf sich. Das gesamte Stück über hatte sie am Rand der Bühne gesessen. Sie, die jüdische Nachbarin Frau Rosenthal, die von einem Nachbarn im Mehrfamilienhaus versteckt wurde. Von Tabletten schmerzbetäubt und umnebelt verlässt sie unbedacht ihr Versteck, wird im Treppenhaus gefasst und entzieht sich ihrem unabwendbaren Schicksal durch Freitod.

 

Ein intensives, ergreifendes, zeitloses Stück über Schuld, Werte, Mut, Widerstand und Konsequenzen.